Eva Leohnhardt: „Wir sollten als Kirche mutiger werden“

Als Eva Leonhardt das erste Mal in Reilingen war, da kam sie inkognito. Die 41-Jährige wollte sich in dem Ort, in dem sie sich später als Pfarrerin beworben hat, erst einmal umschauen. Heute kennt fast jeder Reilinger die Mutter von vierjährigen Zwillingen, die gern singt, Gitarre spielt und mit ihrem Mann wandert. Im Interview erzählt sie, wie ihr erster Eindruck von Reilingen war und was sie gern verändern würde. Wir drucken einen Auszug des Interviews, das in voller Länge auf der Homepage der evangelischen Kirchengemeinde zu finden ist. (www.ev-kirche-reilingen.de)

Wandern Sie gern hier in der Region?
Weniger. Eher in der Nähe von Offenburg, dem Tor zum Schwarzwald, wo meine Eltern wohnen und ich aufgewachsen bin. Bevor unsere Kinder geboren wurden, haben mein Mann und ich große Reisen gemacht, die wir mit dem Wandern verbunden haben. Zum Beispiel waren wir in Afrika und sind auf den Kilimanjaro hoch­gewandert. Später war es dann die Zugspitze.

Was bedeutet Ihnen das Wandern?
Da kommt man los von allem, man bekommt einen freien Kopf. Ich möchte meinen Urlaub eher nicht im Liegestuhl am Strand verbringen. Da kreisen die Gedanken weiter. Beim Laufen ist das anders: Man läuft sich frei. Das ist ganz wichtig. Deshalb wandere ich auch gern weit entfernt von meiner Pfarrgemeinde, um Abstand zu gewinnen. Mit den Kindern hat sich der Schwerpunkt etwas verlagert. Wir waren dieses Jahr am Plattensee, wo wir natürlich vor allem Badeurlaub gemacht haben. Das ist aber auch schön. Und es war uns wichtig, solange wie möglich raus aus allem zu sein. Denn gerade als Pfarrerin ist man in einer Gemeinde immer etwas im Dienst. Ob beim Einkauf oder auf dem Spielplatz: Ich werde als Pfarrerin angesprochen. In Mannheim, wo ich vorher als Pfarrerin gearbeitet habe, war das anders. Aber ich mag es, wie es hier ist. Denn die wichtigsten Gespräche entwickeln sich oft ganz spontan – am Gartenzaun oder bei Rewe an der Kasse.


Was ist der Unterschied zwischen Mannheim und Reilingen?
Ich habe hier eine ganz andere Funktion: Ich bin hier wirklich eine Gemeindepfarrerin. In Mannheim war ich im Springerdienst und habe einige übergemeindliche Dienste ausgefüllt. Ich habe zum Beispiel die Menschen bestattet, die keiner Gemeinde angehört haben. Da war ich vielleicht auf zehn Friedhöfen unterwegs. In zwei Gemeinden habe ich ausgeholfen, weil der Pfarrer in den Ruhestand gegangen war. Ich war aber nie irgendwo voll angestellt.

Sie sind also in Reilingen auch zur Ruhe gekommen?
Ja. In Mannheim hatte ich keine Chance, die Menschen wirklich kennenzulernen. Ich kam zu Geburtstagen und wurde gleich gefragt, ob ich jetzt die neue Pfarrerin sei. Da musste ich sagen: „Ja, im Moment, aber nicht auf Dauer.“ Es hatte etwas Unverbindliches. Jetzt war es an der Zeit, etwas Dauerhaftes an einem Ort zu haben.

Wie haben Sie Reilingen kennengelernt und wie war Ihr erster Eindruck von der Gemeinde?
Wir sind nach Reilingen zunächst inkognito gekommen, bevor ich mich auf die Stelle beworben habe. Ich kann mich daran noch sehr genau erinnern. Es war der Sommertagsumzug im Jahr 2017, ein wunderschöner sonniger Tag, an dem sich der ganze Ort präsentiert hat. Wir hatten einen sehr positiven Eindruck. Und keiner wusste, wer wir sind. Ich habe niemandem erzählt, dass ich mich als Pfarrerin bewerben wollte. Das ganze Vereinsleben war uns damals noch eher fremd, weil wir immer in der Stadt gelebt haben. Reilingen war da schon exotisch. Uns war klar, dass das eine Umstellung sein wird. Aber mir hat sofort gut gefallen, dass die Reilinger eine solche Einheit bilden – eine gute Gemeinschaft. Die Menschen hier identifizieren sich mit ihrem Ort. Und ich habe gleich gespürt, dass ich nicht die einzige Zugezogene bin. Uns war wichtig, dass wir die Nähe zu Mannheim oder Heidelberg haben. Ich bin ein Stadtkind und muss mich manchmal auch ausklinken können. Ich kann auch mal einen Kaffee in Speyer trinken und dort meine Predigt schreiben.

Was Sie vielleicht auch mit anderen Reilingern verbindet…
Ja. Aber zugleich denken die Reilinger auch noch sehr traditionell. Da hat man als Pfarrerin, als Kirchengemeinde auch noch einen gewissen Stand. Es ist auch schön, dass die Kirche wahrgenommen wird, dass es selbstverständlich ist, dass die Kirche mitmischt. Es kommen hier deshalb auch mehr Menschen in den Gottesdienst. Für Jugendliche ist es eine größere Selbstverständlichkeit, sich konfirmieren zu lassen.

Walter Dorn, der Vorsitzende des Kirchengemeinderates, hat bei Ihrer Amtseinführung gesagt: „Wir wollen Traditionen bewahren, und wir wollen auch Neuem offen gegenüberstehen.“ Was haben Sie bereits Neues geschaffen?
Noch nicht viel, weil es ein ehernes Gesetz ist, dass man als Pfarrerin eineinhalb Jahre wartet, ehe man Änderungen einführt. In diesem Jahr war der Einschulungsgottesdienst das erste Mal ökumenisch, weil ich das aus anderen Gemeinden nur so kenne. Ich finde es auch wichtig, dass es eine gute ökumenische Zusammenarbeit gibt. In den ersten beiden Grundschulklassen ist es schon heute so, dass katholische und evangelische Kinder zusammen Religionsunterricht haben. Deshalb fand ich es absurd, dass in jeder Kirche ein eigener Einschulungsgottesdienst stattfindet. Zumal es im evangelischen Kindergarten katholische Kinder gibt und im katholischen sind protestantische Kinder. Die Mischung ist also schon vor der Schule vorhanden.

Wie war die Reaktion auf Ihren Vorstoß?
Alle haben ihn begrüßt. Dass es bislang keinen gemeinsamen Einführungsgottesdienst gab, wurde damit begründet, dass es zu wenig Platz in einer Kirche gab. Deshalb fand er jetzt auch in der evangelischen Kirche statt, weil es dort etwas mehr Plätze gibt. Wir haben es jetzt einfach einmal ausprobiert. Und vielleicht müssen wir das einfach noch einige Male wiederholen, bis auf allen Seiten Routine entsteht.

Warum ist die Ökumene bis heute so schwer umsetzbar?
Das hat auch etwas mit der Tradition in einem Ort zu tun. Es gibt Gemeinden mit einer seit Jahren gewachsenen Ökumene. In Reilingen ist die noch nicht so ausgeprägt. Das hat auch damit zu tun, dass auf katholischer Seite nicht immer ein Pfarrer als Ansprechpartner präsent ist. Der ist Dekan und für die ganze Seelsorgeeinheit zuständig und hat seinen Dienstsitz in Hockenheim. Er ist daher nur punktuell in Reilingen. Das erschwert das Ganze etwas. Es gab früher schon eine Phase, in der sich die Kirchengemeinderat und Pfarrgemeinderat getroffen haben. Das lag zuletzt aber eher brach, obwohl es an der Basis viele Kontakte gibt. Es ist aber auch so: Wenn man hier evangelisch ist, dann ist man das sehr bewusst. Dann möchte man auch sein evangelisches Profil bewahren. Ich habe zu Beginn meiner Zeit hier im Kirchengemeinderat nach den Gründen für die schwache Ökumene gefragt. Die Antwort war: Wir brauchen das nicht. Nicht weil wir uns abgrenzen wollen, sondern weil wir genug Gottesdienstbesucher haben.

Was würden Sie noch gern verändern?
Ich fände es toll, modernere Gottesdienste zu feiern. Wir sollten mutiger werden, indem wir zum Beispiel zu einer anderen Uhrzeit beginnen, vielleicht mal abends statt morgens. Also nicht ein zusätzlicher Gottesdienst, sondern der einzige an einem Sonntag. Der könnte zum Beispiel um 18 Uhr am Sonntagabend beginnen. Das könnten wir zur Tradition an sechs Sonntagen im Jahr machen. Während meines Probedienstes in Sinsheim habe ich damit sehr gute Erfahrungen gemacht.

Und in Reilingen?
Hier ist das schwierig umzusetzen, weil viele den Sonntagmorgen verteidigen. Auf der anderen Seite wurde ich bei meinem Vorstellungsgespräch gefragt, wie ich mehr jüngere Leute in die Gottesdienste bringen will. Das Patentrezept dafür habe ich auch nicht. Aber ein Gottesdienst am Sonntagabend könnte ein Weg sein. Oder Filmgottesdienste. Oder wir könnten die Band des CVJM mehr in den Gottesdienst integrieren. Das sind meine persönlichen Vorstellungen. Wenn die Reilinger Gemeinde allerdings sagt, dass sie ihre traditionellen Gottesdienste beibehalten und am evangelischen Gesangbuch festhalten möchte, dann ist es meine Aufgabe als Pfarrerin, mich mit der Gemeinde zu identifizieren. Dann kann ich mich in zwei oder drei Gottesdiensten im Jahr ausleben, ansonsten werde ich mich dann anpassen.

In Speyer gibt es in einer Kirchengemeinde einen zweiten Gottesdienst mit eigener Band und einem Motto wie die Fußball-WM. Ist das für Sie auch in Reilingen vorstellbar?
Das müssten wir auf regionaler Ebene machen. Und es gibt ja schon eine Kooperation in der Region zusammen mit Hockenheim, Altlußheim und Neulußheim, etwa in Form eines Konfitreffens mit Konfirmanden aus allen Gemeinden. Da wird es in Zukunft sicherlich noch mehr Kooperationen geben, zum Beispiel regionale Gottesdienste in einer anderen Gemeinde. Es ist doch schön, die Regionen miteinander zu verbinden. Es bewegt die Menschen, wenn der Himmelfahrtsgottesdienst einmal nicht in Reilingen, sondern unter freiem Himmel mit Posaunenchor in Neulußheim stattfindet. Gleiches gilt im Sommer, wenn viele Pfarrer Urlaub machen. Das kann dann auch bedeuten, dass ein Gottes­dienst in Reilingen erst um 11 Uhr beginnt.

Sie haben sich in Ihrer ersten Predigt mit dem Thema Sorge beschäftigt. Wovor sorgen Sie sich?
Sorgen mache ich mir nicht. Ich weiß schon, dass ich viel Sorge tragen muss. Und ich nehme die Sorgen anderer sehr ernst. Aber ich selbst bin kein besonders besorgter Mensch, eher eine Optimistin. Und ich habe viel Vertrauen – darauf, dass ich nicht allein wirke, sondern dass Gott immer mit mir ist. Ich mache mir aber Gedanken, wie es mit der nächsten Kirchengemeinderatswahl im Dezember 2019 wird. Viele werden dann auch aus Altersgründen aufhören. Deshalb denke ich darüber nach, wie wir neue, auch jüngere Mitglieder finden können, die dann auch gut miteinander zusammenarbeiten und die Gemeinde gut repräsentieren können.


Sie sorgen sich also nicht um die Kirche?
Nein. Aber ich finde schon, dass wir uns als Kirche modernisieren müssen. Wir sollten offen sein und mit der Gesellschaft mitgehen. Dazu gibt es ja auch andere Meinungen: dass man gerade als Kirche ein Zeichen der Stabilität setzen muss. Nach dem Motto: Gerade das Unveränderte gibt Halt. Das sehe ich etwas anders. Wenn sich die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert hätte, dann wäre ich vielleicht nicht Pfarrerin geworden. Deshalb freue ich mich, dass sich die Badische Landeskirche modernisiert hat. Und daher bin ich zuversichtlich, dass das so weitergeht. Ich begrüße auch Veränderungen wie die Trauung homosexueller Paare.

Wo tut sich die Kirche denn noch schwer?
Bei Lebensordnungen bei Amtshandlungen wie Taufe, Konfirmation, Trauungen oder Beerdigungen. So ist die Bestattung von Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, nicht erlaubt, es sei denn, es gibt eine Ausnahmegenehmigung. Oder wenn es um Trauungen außerhalb von Kirchen geht. Das sind scheinbar kleine Dinge, bei denen es aber viele Anfragen gibt. Was Trauungen angeht, kann das für mich als Pfarrerin ja auch eine schöne Erfahrung sein. Und ich traue den Menschen zu, dass sie sich das gut überlegt haben. Da liegt noch einiges im Argen, was viel selbstverständlicher werden müsste.

Es gibt kaum etwas Umstritteneres als eine Predigt. Die einen mögen sie nicht, die anderen streiten darüber. Wie entsteht bei Ihnen eine Predigt, und sprechen Sie mit Ihrem Mann darüber?
Ja. Nicht immer, aber oft. Wenn ich weiß, dass es ein heikles oder kontroverses Thema ist, oder ich nicht sicher bin, ob ich mutig genug oder zu gewagt bin, dann frage ich meinen Mann. Manchmal lese ich ihm auch den Predigttext vor. Es passiert sogar, dass ich ein Zitat von ihm einbaue, ohne das zu verraten. Mein Mann ist Informatiker und kirchlich nicht so stark engagiert. Deshalb hat er eine gute Außensicht.

Das Gespräch führte der Koblenzer Redakteur Christian Kunst,
der mit der Redakteurin des Gemeindeblattes, Korina Dielenschneider, befreundet ist.

Spontanität ist gefragt:

Der französische Dichter Marcel Proust erfand den Fragebogen als Gesellschaftsspiel. Wir haben dieses Spiel in verkürzter Form am Ende des Interviews mit Pfarrerin Eva Leonhardt gespielt:

Wenn ich entspannen möchte, höre ich am liebsten…
…meinen YouTube-Mix. Der besteht vor allem aus ziemlich schräger Rockmusik.

Wenn ich die freie Wahl für ein Musikkonzert hätte, würde ich gehen zu…
…Nick Cave and the Bad Seeds.

Drei Bücher, die alles für mich bedeuten, sind…
…die Bibel. Die harten skandinavischen Krimis, wie die Mankell-Klassiker. Und „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“, ein Erziehungsratgeber von Danielle Graf.

Wenn ich nicht Pfarrerin geworden wäre, wäre ich heute…
…Tierärztin

Mein Satz des Glaubens aus der Bibel lautet…
…„Kein Weg lässt uns Gott gehen, den er nicht selbst gegangen wäre.“ Der Satz stammt von Dietrich Bonhoeffer. Und er stimmt. Ich habe mir diesen Satz während meines Examens in großen Buchstaben über meinen Schreibtisch gehängt. Er hat mir in Krisensituationen geholfen, wenn ich Angst vor einer Prüfung hatte. Ich habe ihn mir aber auch bei schönen Erlebnissen gesagt. Es ist so beruhigend für mich, dass ich weiß: Gott ist schon da.

So richtig auf die Palme bringt mich, wenn…
…ich den Satz höre: „Es war doch schon immer so.“